Neue und neueste Klänge zum Jubiläum
50 Jahre Hortus Musicus
Hortus Musicus:
Christa Mäurer (Sopran)
Waltraud Russegger (Mezzosopran)
Michael Nowak (Tenor)
Günter Mattitsch (Bariton)
Dietmar Pickl (Bass)
Streichquartett:
Natalja Tripkovič (1.Viol.)
Daniel Perez Trujillo (2.Viol.)
Andries Cigulea (Viola)
Miramis Semmler-Mattitsch (Violoncello)
Alja Klemenc (Dirigentin)
Programm
Dieter Kaufmann (*1941)
Rudolf Hinterdorfer (+1947)
Gerhard Lampersberg (1928-2002)
Dietmar Pickl
(*1941)
Wolfgang Liebhart (*1958)
Günter Mattitsch (*1947)
Michael Nowak
(*1967)
Burkhard Stangl
(*1960)
Wilfried Satke
(*1955)
Friday 20 for future
nach der Rede von Greta Thunberg
vor der UNO-Generalversammlung am 23.09.2019 in New York
Die gestundete Zeit
(Ingeborg Bachmann)
Solo et pensoso
(Francesco Petrarca)
Ich hab genug erfahren
(Christine Lavant)
Tich, toch ò Zanni
Poi si tornò
(Dante Alighieri)
Sestina at 3 a.m.
(Linda Pastan)
O amato mio
(altägyptische Grabinschrift)
Durch die Banken
(Robert Gernhardt)
Tich Tach Toch
50 Jahre Hortus Musicus
Den Abschluss des Jubiläumsjahres bildet ein Projekt mit dem etwas
eigentümlichen Titel - er ist einer Textstelle aus Orazio Vecchis
Madrigalkomödie „L'Amfiparnaso“ entnommen.
Das Konzert ist jedoch der Musik der Gegenwart verpflichtet, besteht doch die Kulturinitiative
ARCADE auch bereits 40 Jahre, innerhalb derer das Ensemble Hortus
Musicus in Verbindung mit externen Sänger*innen und Musiker*innen im
Lauf der Zeit über 150 Werke zu Uraufführungen gebracht hat.
So wird es auch in diesem Programm 3 Uraufführungen geben (Dieter Kaufmann,
Wolfgang Liebhart, Wilfried Satke). Deren Werke sind jeweils
für 5 Stimmen und ein Streichquartett geschrieben. Dazu kommen
zeitgenössische Kompositionen von Rudolf Hinterdorfer, Gerhard
Lampersberg, Günter Mattitsch, Michael Nowak, Dietmar Pickl und
Burkhard Stangl.
Dieter Kaufmann/Greta Thunberg: Friday 20 for future
Die Komposition ist im Jahr 2020 zunächst für den Hortus
Musicus a capella entstanden. Die Möglichkeit einer Begleitung
durch das Streichquartett hat mich veranlasst, dem schwierig,
oft 12-tönig, gestalteten, Gesangspart ein instrumentales
Fundament zu geben, wobei die Reduktion von fünf Singstimmen
auf vier Streicher nicht immer leicht zu entscheiden war.
Im übrigen geht es mir immer wieder darum, nicht auf den
Dreiklang in der Musik verzichten zu müssen. Es erscheint mir
immer wichtiger, nicht nur 12 Töne, sondern 12 Tonarten – sei
es in Dur oder Moll – miteinander ins Gespräch zu bringen und
damit Gretas mutige Rede vor der UNO befreit von den Zwängen
der traditionellen Harmonielehre freitonal zu unterstreichen. (D.K.)
Wolfgang Liebhart /Tich toch ò Zanni
Ob tich toch, pi pi ri pì, cu cu ru cu oder ähnliche lautmalerische oft
grotesk anmutende Silben, die Orazio Vecchi in seiner Comedia
Harmonica „L’Amfiparnaso“ so pointiert einsetzt, sie haben mich definitiv
zu meiner Komposition inspiriert. L’Amfiparnaso war auch eines der
ersten Werk, das der „Hortus Musicus“ mit großem Erfolg zur
Aufführung brachte. Diesem Vokalensemble, welches sich der alten wie
auch aktuellen Musik gleichermaßen verschrieben hat, widme ich dieses
Werk zu seinem 50-jährigen Bestandsjubiläum.
Statt eines Textes wird die Musik mit freigewählten (Scat-)Silben unterlegt,
ähnlich, wie man sie aus manchen Jazz-Standards der Swing- und Bebob-
Ära der 40er-Jahre kennt.
Unterstützt wird das Vokalensemble hierbei von einem Streichquartett,
das den Vokalpart rhythmisch akzentuiert kontrapunktiert. (W.L.)
Günter Mattitsch/Dante Alighieri: Poi si tornò
Beatrices Lächeln ist für Dante eine allerletzte Möglichkeit, sich seiner
Beziehung zu jener begehrten und geliebten Frau, die ihm
Seelenbegleiterin auf seinem Weg durch die Sphären des Lebens und
deren Wirklichkeiten war, bewusst zu werden. Dankbar erinnert er sich
ihrer selbstlosen Bereitschaft, ihn entlang der konzentrischen Kreise der
unermesslichen Rose des Paradiso zu führen, um seinen Weg - zu sich
selbst wohl, zu seinem wahren Wesen - zu behüten. Doch nun, der Platz
an seiner Seite ist plötzlich verlassen, taucht ein ehrwürdiger Greis auf
und weist auf die - für ihn letztlich immer schon - Unerreichbare hin, die
an der Grenze der allerhöchsten Rose, umgeben von einer Aureole,
steht. Beatrice dreht sich vor ihrem letzten erlösenden Schritt ins
göttliche Empyreum zu ihm um und schenkt ihm ihr Lächeln, bevor sie
sich zur ewigen Quelle hin wendet und die raum-zeitliche Sphäre verlässt.
Dante bleibt zeitlebens ein Mann und Künstler, der aus der unerfüllten
Sehnsucht nach der Angebeteten, seiner Muse, Inspiration für sein
epochales Werk, seine Divina Commedia, erfährt. Für die europäische
Literatur- und Geistesgeschichte ist die monumentale Vision der
Göttlichen Komödie von höchster Bedeutung, hebt sie doch das Bild von
Unerfülltheit und Vergeblichkeit in eine Dimension, in der schmerzhafte
irdische Erfahrung in wertschätzende Dankbarkeit transformiert werden
kann. Der Blick auf die ewige Quelle des Seins öffnet sich und erlöst
irdisch-raumzeitliche Bedingtheit. Poi si tornò greift das Sestina-Thema
formal als 6-teiliger Zyklus mit jeweils 21 Takten auf, um uns an jene
mögliche Wende zur ewigen Quelle des Lebens hin zu erinnern. (G.M.)
Burkhard Stangl/altägyptische Grabinschrift: O amato mio
Das Madrigal „Dolcissima mia vita“ von Carlo Gesualdo, Principe da
Venosa, ist Ausgangsmaterial für Stangls Komposition. Stangl
dekonstruiert die Akkordik Gesualdos und setzt deren Elemente neu
zusammen. Wie fremd und doch vertraut klingt dieses Werk.
Michael Nowak/Linda Pastan : Sestina at 3 a.m.
Die amerikanische Lyrikerin Linda Pastan schildert in Sestina at 3 a.m.
trübsinnige, düstere Stimmungen, geprägt von Verlust und
Todessehnsucht. Sie wählte für ihre Dichtung die literarische Form der
Sestine. Diese Gedichtform ist gekennzeichnet durch einen sechsteiligen
Aufbau und eine spezielle Reimstruktur.
Die Vertonung von Sestina at 3 a.m. erfolgte in Anlehnung an die
berühmte Komposition von Claudio Monteverdi. Anstelle von Zitaten aus der
Originalkomposition wurden jedoch „nachgemalte“ Melodien und
Stimmungen eingebaut. Dadurch wird einerseits ein Dialog zu
Monteverdis Vertonung aufgenommen, andererseits bleibt Raum für
moderne Ausdrucksmittel.
Sestina at 3 a.m. ist größtenteils in der Ganztonskala komponiert. Die
Melodien, die sich durch die konsequente Verwendung der Skala ergeben,
zeigen, obwohl sie an manchen Stellen die Originalkomposition imitieren,
einen fremden, exotischen Charakter. Aus der Skala entstehende
Zusammenklänge geben die Schwermütigkeit der Lyrik wieder. Einzelne
Abschnitte der Komposition sind mit kurzen musikalischen
Gedanken, so genannten patterns, gestaltet, die wiederholt und
weiterentwickelt werden. Der überraschende Schluss lässt wieder die
Verbindung zu Monteverdi erkennen. (M.N.)
Wilfried Satke/Robert Gernhardt: Durch die Banken
Robert Gernhardt’s Gedicht Durch die Banken (1994) ist eigentlich ein
Zwei-Personen-Dramolett (die Vertonung daher gewissermaßen eine
Mini-Oper) und hat mich auf Anhieb fasziniert und begeistert. Manches an
dem Text mag heute nostalgisch erscheinen (wer kann sich noch daran
erinnern, dass es in Banken Schalter gab und die D-Mark ein gültiges
Zahlungsmittel war?), doch zeitlos ist und bleibt das fundamentale, blanke
Unverständnis zwischen den beiden Welten, die hier aufeinanderprallen:
Die Welt des Geldes – verkörpert durch einen Homo oeconomicus –
und die trans-pekuniäre Welt, die in den inneren Monologen des Ich-
Erzählers Gestalt annimmt. Ein wahrhaft archetypisches Gegensatz-Paar,
nicht erst seit Judas und Jesus. Die musikalische Umsetzung der beiden
inkompatiblen Gedankenwelten gelingt mit dem Kunstgriff der Polystilistik:
Geld swingt. (W.S)
Texte
Dieter Kaufmann: Friday 20 for future (Greta Thunberg)
All das ist falsch. Ich sollte nicht hier oben sitzen. Ich sollte wieder in
der Schule auf der anderen Seite des Ozeans sein. Doch ihr alle setzt eure
Hoffnung auf uns junge Menschen. Wie könnt ihr es wagen!
Ihr habt meine Träume und meine Kindheit mit euren leeren Worten gestohlen.
Und doch bin ich eine der Glücklichen. Menschen leiden. Menschen sterben.
Ganze Ökosysteme kollabieren. Wir stehen am Anfang eines
Massensterbens, und alles, worüber ihr reden könnt, ist Geld und
Märchen über ewiges Wirtschaftswachstum. Wie könnt ihr es wagen!
Seit mehr als 30 Jahren ist die Wissenschaft sich einig. Wie könnt ihr es
wagen, weiterhin wegzuschauen und hierher zu kommen und zu sagen,
dass ihr genug tut, wenn die notwendige Politik und die notwendigen
Lösungen noch nirgendwo in Sicht sind.
Ihr sagt, ihr hört uns und versteht die Dringlichkeit. Aber egal wie
traurig und wütend ich bin, ich will das nicht glauben. Denn wenn ihr die
Situation wirklich verstehen würdet und dennoch nicht handelt, dann
wärt ihr böse. Und das weigere ich mich zu glauben.
Es ist ja nun populär, daran zu glauben, dass es ausreicht, den Ausstoß von
Treibhausgasen innerhalb von zehn Jahren zu halbieren. Das aber bedeutet
nur eine 50-prozentige Chance, die Erwärmung der Erde unter 1,5 Grad
Celsius zu halten. Das wiederum birgt das Risiko, irreversible Ketten-
reaktionen auszulösen. Diese befinden sich außerhalb der menschlichen Kontrolle.
Fünfzig Prozent mögen für euch akzeptabel sein. Aber diese Zahlen
beinhalten nicht die Kippeffekte, die Rückkopplungen, die zusätzliche
Erwärmung, die durch giftige Luftverschmutzung verborgen wird, oder die
Aspekte der Gleichberechtigung und Klimagerechtigkeit.
Ihr verlasst euch darauf, dass meine Generation Hunderte von Milliarden
Tonnen CO2 aus der Luft saugt, mit Technologien, die es noch gar nicht gibt.
Ein 50-prozentiges Risiko ist für uns einfach nicht akzeptabel - für uns,
die wir mit den Folgen leben müssen. Um eine 67-prozentige Chance zu
haben, unter einem globalen Temperaturanstieg von 1,5 Grad zu bleiben –
die besten Aussichten, die der Inter-governmental Panel on Climate
Change gibt - hatte die Welt 2018 noch 420 Gigatonnen übrig, die sie
ausstoßen konnte. Heute sind es bereits weniger als 350 Gigatonnen.
Wie könnt ihr es wagen, so zu tun, als ob dies einfach mit „business as
usual“ und einigen technologischen Lösungen gelöst werden könnte? Mit
den heutigen Emissionswerten wird das verbleibende CO2-Budget in
weniger als 8½ Jahren vollständig aufgebraucht sein.
Es wird heute hier keine Lösungen oder Pläne geben, die mit diesen
Zahlen übereinstimmen, weil diese Zahlen zu unbequem sind. Und ihr
seid immer noch nicht reif genug, zu sagen, was Sache ist.
Ihr lasst uns im Stich. Aber die jungen Leute fangen an, euren Verrat zu
verstehen. Die Augen aller zukünftigen Generationen sind auf euch
gerichtet. Und wenn ihr euch entscheidet, uns im Stich zu lassen, dann sage ich:
Wir werden euch das nie verzeihen. Wir werden nicht zulassen, dass ihr
damit durchkommt. Hier und jetzt ist der Punkt, an dem wir die Grenze
ziehen. Die Welt wacht auf. Und die Veränderung kommt, ob es euch nun
gefällt oder nicht.
Danke.
Rudolf Hinterdorfer: Die gestundete Zeit (Ingeborg Bachmann)
Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.
Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!
Es kommen härtere Tage.
Gerhard Lampersberg: Solo et pensoso (Francesco Petrarca)
Solo et pensoso i più deserti campi
vo mesurando a passi tardi et lenti,
et gli occhi porto perfuggire intenti
ove vestigio human l’arena stampi.
Ich geh alleine durch das ödste Land,
es mit gemessnen Schritten zu durchziehen,
und meine Blicke in die Runde fliehen
nach irgendeines Menschen Spur im Sand.
Dietmar Pickl: Ich hab genug erfahren (Christine Lavant)
Ich will vom Leiden endlich alles wissen!
Zerschlag den Glassturz der Ergebenheit
und nimm den Schatten meines Engels fort.
Dort will ich hin, wo deine Hand verdorrt,
ins Hirn der Irren, in die Grausamkeit
verkümmerter Herzen, die vom Zorn gebissen
sich selbst zerfetzen, um die tolle Wut
hineinzustreuen in das Blut der Welt.
Mein Engel geht, er trägt das Gnadenzelt
auf seinen Schultern, und von deiner Glut
hat jetzt ein Funken alles Glas zerschmolzen.
Ich bin voll Hoffart und zerkau den stolzen
verrückten Mut, mein letztes Stücklein Brot
aus aller Ernte der Ergebenheit.
Du warst sehr gnädig, Herr, und sehr gescheit,
denn meinen Glassturz hätt ich sonst zerschlagen.
Ich will mein Herz jetzt mit den Hunden jagen
und es zerreißen lassen, um dem Tod
ein widerliches Handwerk zu ersparen.
Du sei bedankt – ich hab genug erfahren.
Günter Mattitsch: Poi si tornò (Dante Alighieri)
O donna in cui la mia speranza vige,
e che soffristi per la mia salute
in Inferno lasciar le tue vestige;
cosi orai; ed ella, si lontana
come parea, sorrise e riguardommi;
poi si tornò all'eterna fontana.
O Frau, in der mein Hoffen Frucht getrieben,
die mir zum Heile wollt zur Hölle gehen,
duldend, dass ihre Spuren dort verblieben,
so mein Gebet. Und sie sah zu mir nieder
vom fernsten Sitz, ein Lächeln mir zu spenden.
Dann sah sie auf zur Ewigen Quelle wieder.
Burkhard Stangl: O amato mio (altägypt. Grabinschrift 1.500 v. Chr)
O amato mio
Quant’è dolce recarsi al(lo) stagno
E immergersi nei flutti davant’ai tuoi occhi
Mostrandoti come la mia veste di lino bagnata si sposa.
Bellezza del mio corpo
Dolcissima mia vita
Vieni, vieni, vieni,
Guardami, guardami!
O mein Geliebter
O mein Geliebter!
Wie süß ist es, sich zum Teich zu begeben
und vor Deinen Augen in die Wellen einzutauchen
und Dir zu zeigen, wie mein durch und durch nasses Leinenkleid sich
anschmiegt.
Schönheit meines Körpers,
Süßestes Leben mein,
Komm, komm, komm,
Sieh mich an, sieh mich an!
(Übersetzung: Edgar Sallager)
Wilfried Satke: Durch die Banken (Robert Gernhardt)
In dieser entgötterten Welt
– Oder haben Sie etwas zu verschenken?
behelligen mich Menschen mit Fragen
– Wer von uns hat das schon?
die in mir eine wilde Sehnsucht wachrufen
– Haben Sie eigentlich Ihren Freistellungsauftrag
bei uns eingereicht?
nach jenen Fragen, auf die Menschen wie ich
noch eine Antwort wussten:
Welches ist die wahre Natur Gottes?
Woher kommt das Böse?
Wohin gehen wir?
Was können wir erkennen?
Warum Kunst?
Das Bankgebäude ist hoch und glänzend.
Im Innern schimmern prachtvolle Schalter,
»Bitte Abstand halten!« mahnt eine Leuchtschrift.
Schwierig, wenn alles lockt: Du! Berühr mich!
»Das mit dem Freistellungsauftrag sollten Sie
so schnell wie möglich klären. Hier jedenfalls
liegt kein Freistellungsauftrag von Ihnen vor.
Haben Sie den Freistellungsauftrag etwa bei einer
anderen Bank eingereicht? Dann würde ich
an Ihrer Stelle dort unverzüglich anfragen!«
Woher kommen wir?
Wohin gehen wir?
Was soll das alles?
Die Türen der Bank öffnen sich lautlos.
Die Schalterhalle brummt vor Leben.
Der Mann hinterm Schalter weist in die Stille.
Im Raum des Kollegen lastet das Schweigen:
– Sie müssen doch einen Brief von uns
in Sachen Freistellungsauftrag
bekommen haben!
(Kein Mensch muss müssen.)
– Sie wissen doch: Als Verheiratetem stehen
Ihnen steuerfrei Zinseinnahmen in Höhe
von DM 12 200 jährlich zu.
(Ich weiß, dass ich nichts weiß.)
– Diese Regelung gilt seit dem 1.1.1993.
Da bereits hätten Sie von dieser Möglichkeit
der Freistellung vom Steuerabzug auf
Zinsen Gebrauch machen müssen.
Oder haben Sie etwas zu verschenken?
Ihr Brüder, hattet was zu verschenken,
Du, heiliger Franz, und du, weiser Ludwig,
Du in Assisi und du in Wien.
Euch, Brüder, war euer Erbe so lästig,
dass ihr es hergabt, um Zeit zu gewinnen,
du für den Glauben und du für das Denken.
Lehr, Franz, mich Sonne und Gott zu besingen!
Führ, Ludwig, mich an die Grenzen des Denkens!
Franziskus! Wittgenstein! Holt mich hier raus!
– Der Höchstbetrag von DM 12 200
gilt natürlich nur bei
Zusammenveranlagung. Sie werden doch
zusammenveranlagt?
(Wovon man nicht reden kann,
davon muss man schweigen.)
– Der Freistellungsauftrag ist
nach Auflösung der Ehe
oder bei dauerndem Getrenntleben
zu ändern. Trifft
das auf Sie zu?
(Regel und Leben dieser Brüder ist so:
in Gehorsam, in Keuschheit und ohne
Eigentum zu leben.)
– Zuviel gezahlte Kapitalertragssteuern
werden Ihnen zurückerstattet, freilich
mit Verzögerung. Und die Zinsen
sehen Sie natürlich auf keinen Fall –
was Vater Staat mal hat, das behält er.
Fragen Sie Ihren Steuerberater!
Was macht der Wind, wenn er nicht weht?
Wie kommt das Salz ins Meer?
Warum und zu welchem Zweck studieren wir
Universalgeschichte?
Der Sachbearbeiter strahlt und erhebt sich:
»Ich bin für Sie da, falls Sie Fragen haben!«
»Oh, gut zu wissen!« Und er entlässt mich
in diese entgötterte Welt.